Wegen Behinderung kein Kita-Besuch?
Wegen eines Gendefekts ist Hendrik verhaltensauffällig. Er darf die Kita vor Ort deshalb nur besuchen, wenn eine Integrationskraft ihn betreut. Doch diese Kräfte fallen regelmäßig aus.
Obwohl Hendrik K. drei Jahre alt ist, spricht er kaum. Er leidet an einem Gendefekt, auch fragiles X-Syndrom genannt. Die Erbkrankheit zeichnet sich unter anderem durch Lernschwäche, Hyperaktivität und Sprachstörungen aus. Weil Hendrik Dinge verschlucken würde, kann er nicht aus den Augen gelassen werden. Als der Dreijährige von der Krippe in die Kita wechselt, wo der Betreuungsschlüssel geringer ist, stellt die Kita Bedingungen. „Die Kita-Leitung erklärte mir, dass mein Kind eine 1:1-Betreuung braucht, weil er sich und andere gefährden könnte. Die Kita könne das nicht stemmen“, sagt Hendriks Mutter.
Die Eltern müssen eine Nebenvereinbarung unterschreiben, wonach Hendrik die Kita nur besuchen kann, wenn er von einer Integrationsfachkraft oder Integrationshelfer/in begleitet wird. Das Problem dabei: Die Fachkraft fällt wegen Urlaub oder Krankheit regelmäßig aus, die Helferinnen suchen sich häufig einen besser bezahlten Job. Oft erfährt Hendriks Mutter erst am Morgen, dass Hendrik nicht zu kommen braucht. „Das ist verrückt. Die Kita macht ja auch nicht zu, wenn eine Erzieherin nicht da ist“, sagt sie. Der Kita-Platz muss dennoch voll bezahlt werden.
Das zuständige Landesamt für Soziales hat Hendrik acht Fachkraft-Stunden und 22 Helfer-Stunden bewilligt. Integrationshelfer/innen erhalten ein Gehalt, das nur knapp über dem Mindestlohn liegt. Für viele offenbar zu wenig, denn „die Betreuung eines behinderten Kindes ist eine anstrengende und verantwortungsvolle Aufgabe, viele suchen sich daher etwas anderes“, betont Sabine Philippi, die die Familie im Rahmen der sozialpädagogischen Familienhilfe des Kreises unterstützt. Die gemeinnützigen Träger hätten es schwer, Personal zu finden.
Das bestätigt Traudel Hell vom Verein Miteinander Leben Lernen (MLL): „Das Problem ist, dass man mit dem Mindestlohn niemanden halten kann. Leider gibt es hier kaum Bewegung beim Kostenträger.“ Das Sozialministerium wiederum verweist darauf, dass der Vergütungssatz so kalkuliert sei, dass „ein Leistungserbringer zumindest den Mindestlohn, aber in der Regel auch höhere Entgelte, zahlen kann“.
Kein Einzelfall
„Die Geschichte von Hendrik ist kein Einzelfall. Familien mit einem behinderten Kind sind systembedingt benachteiligt“, sagt Philippi. Die Inklusion sei auf den Weg gebracht worden, ohne die Kitas personell besser auszustatten. „Viele Kitas bekommen die Betreuung eines behinderten Kindes nicht hin, weil das Personal fehlt. Wenn sie mit auffälligen Kindern nicht fertig werden, machen sie von ihrem Sonderkündigungsrecht Gebrauch.“
Das Sozialministerium verweist hier auf die Trägerhoheit: „Es liegt im Ermessen des Trägers, im Rahmen seiner Möglichkeiten, Plätze zur Verfügung zu stellen“, im Vordergrund stehe das Kindeswohl.
Hendriks Mutter hofft auf eine bessere Betreuung in einer integrativen Kita, wo die Gruppen kleiner sind und es vergleichsweise mehr Personal gibt. Doch die Wartelisten sind lang. Ein freier Platz in einer solchen Kita wurde der Familie für September in Aussicht gestellt – unter Vorbehalt und nur mit 1:1-Betreuung durch eine Integrationshilfe. Diese wurde inzwischen bewilligt.
Doch warum gibt es kaum freie Plätze? Die 19 integrativen Kitas im Saarland zeichnen sich dadurch aus, dass ein Teil der Plätze für Kinder mit Behinderungen vorgesehen ist. „Diese Eingliederungshilfe-Plätze müssen im Grunde immer belegt sein, deshalb werden gerne auch Kinder aus anderen Einzugsgebieten angenommen“, erklärt Traudel Hell. Das widerspreche dem Gedanken der Inklusion, wonach Kinder mit Behinderung – wie alle Kinder in der Nachbarschaft – einen wohnortnahen Kindergarten besuchen sollen, um Kontakte vor Ort und den Übergang in die Schule zu erleichtern.
Jobsuche nicht möglich
Dabei war das Saarland hier Vorreiter – schon in den 90er-Jahren wurde mit den sogenannten Arbeitsstellen für Integrationspädagogik („Afi“) eine flächendeckende Versorgung eingerichtet. „Es handelte sich damals um ein bundesweit einmaliges Modell- und Vorzeigeprojekt. Ziel war, dass die Fachkräfte zum Kind kommen und es eben nicht in eine spezielle Einrichtung gefahren werden muss“, sagt Hell und ergänzt: Inklusion heiße, dass ein behindertes Kind in einem Regelkindergarten die gleichen Rechte zum Besuch der Einrichtung habe.
Das Sozialministerium hingegen beurteilt die Lage insgesamt positiv: „Viele Kitas betreuen, bilden und erziehen Kinder mit Behinderung oder von Behinderung bedrohte Kinder ohne zusätzliche (personelle) Unterstützungsmaßnahmen mit sehr guten Erfahrungswerten“, heißt es.
Hendriks Mutter hingegen will weiterkämpfen, um zu zeigen, dass „es so nicht geht“. Durch die nicht gesicherte Betreuung kann sie sich keine neue Arbeit suchen. Ihren Job verlor sie, weil Hendrik im ersten Jahr viel krank war. „Ich weiß, dass es auch anderen Familien so geht wie uns. Viele haben nicht die Kraft, zu kämpfen. Es ist schlimm, dass die, die ohnehin schon schwach sind, nicht besser unterstützt werden. Wir werden die Füße nicht stillhalten“, sagt Hendriks Mutter.