„Kinder sind bei uns immer willkommen“
1975 wurde der Verband alleinerziehender Mütter und Väter (VAMV) im Saarland gegründet, um Alleinerziehende zu vernetzen. Ob Vereinbarkeit, fehlende Kinderbetreuung oder finanzielle Sorgen – die Belastungen Alleinerziehender sind hoch.

In der Gemeinschaft geht alles leichter – dieses „Aha-Erlebnis“ hatte Esther Nikaes, als sie mit ihren beiden kleinen Kindern an einem Ausflug des Verbandes alleinerziehender Mütter und Väter (VAMV) zur Sommerrodelbahn am Petersberg teilnahm. „Allein hätte ich das gar nicht machen können, weil ein Kind immer in Begleitung fahren muss und ich das andere Kind nicht einfach stehen lassen konnte. Durch die Gruppe war das möglich“, erinnert sich Nikaes. Schon bald engagiert sie sich als Schriftführerin und wird 2010 zur Landesvorsitzenden des VAMV im Saarland gewählt, die sie bis heute ist. Zusammen mit Geschäftsführerin Dalila Wettki repräsentiert sie und der restliche Landesvorstand den Verband, der im Juni sein 50. Jubiläum feiert, nach außen. Zu diesem Anlass empfängt der VAMV Saarland Vertreter anderer Landesverbände sowie des Bundesverbandes zur Bundesdelegiertenversammlung in Homburg. Rund 80 Personen werden erwartet sowie etwa 20 Kinder – denn bei VAMV-Veranstaltungen sind „Kinder immer willkommen“.
Kein Kitaplatz
Auch Dalila Wettki kennt die Probleme Alleinerziehender nur allzu gut. Als sie vor knapp drei Jahren ins Saarland kam, fand sie keinen Kitaplatz für ihre Tochter. Es dauerte Monate, bis sie von einem „Brückenangebot“ erfuhr, durch das ihr Kind drei Vormittage in der Woche betreut wurde und wieder Kontakt zu anderen Kindern bekam. Da sie damals als Freelancerin arbeitete, konnte sie ihr Kind betreuen und trotzdem Geld verdienen. Dieses Beispiel zeigt gleich mehrere Probleme, die Alleinerziehende betreffen: fehlende Betreuungsangebote und zu wenig Informationen darüber, was ihnen zusteht. Bei manchen kommen finanzielle Sorgen hinzu.
Ob Kindergeld, Unterhaltsvorschuss, Kinderzuschlag, Wohngeld oder Leistungen zur Bildung und Teilhabe – für fast jede Leistung ist eine andere Behörde zuständig, bei der ein Antrag gestellt werden muss. In Informationsgesprächen unterstützt der VAMV Alleinerziehende dabei, einen Überblick über diesen „Behördendschungel“ zu bekommen. Oft seien es Frauen, seltener auch Männer, die wissen wollen, was nach einer Trennung auf sie zukommt. „Leider gibt es noch immer Frauen, die Angst vor ihrem Ex haben, weil er droht, ihnen das Kind wegzunehmen, obwohl das rechtlich fast unmöglich ist. Oder die sich nicht trennen, weil sie Angst vor einer Entführung der Kinder ins Ausland haben. Auf der anderen Seite hatten wir auch schon Männer, die Opfer häuslicher Gewalt wurden. Doch in Deutschland gibt es nur vier Männerhäuser, die immer belegt sind, so dass wir nicht wirklich helfen können“, sagt Wettki. Beim VAMV im Saarland seien Väter mit einem Anteil zwischen 15 und 20 Prozent relativ stark vertreten.
Bei Fragen zum Familienrecht bietet der Verband für Mitglieder eine kostenlose Erstberatung bei einer Rechtsanwältin an, die auch regelmäßig in Vorträgen zum Thema Trennung, Scheidung und Unterhalt informiert. War ein Paar verheiratet, besteht ein gemeinsames Sorgerecht, so dass der Ex-Partner bei etlichen Entscheidungen – zum Beispiel Umzug, Schulwechsel oder einer Therapie – zustimmen muss. „Das gemeinsame Sorgerecht hat in Deutschland einen sehr hohen Stellenwert, was manchmal zum Nachteil des Kindeswohls geht, das eigentlich immer an erster Stelle stehen sollte“, berichtet Esther Nikaes aus eigener Erfahrung. Sie musste die Unterschrift ihres Ex-Mannes vor Gericht erkämpfen, als ihre Tochter vom Vater wieder zur Mutter zurückziehen wollte und sie ohne seine Unterschrift keine Ummeldung vornehmen konnte. Der „Kampf“ endete erst mit Volljährigkeit der Kinder, für Esther Nikaes war das „eine Befreiung.“ Das Kindeswohl steht beim VAMV, der regelmäßig Ausflüge, gemeinsames Frühstücken am Wochenende und Elterncafés im ganzen Saarland anbietet, ganz oben. „Mütter oder Väter können sich hier mit Gleichgesinnten über ihre Probleme austauschen, während die Kinder im Kinderzimmer spielen. So sind sie geschützt und bekommen nicht unbedingt mit, dass Mama oder Papa gerade gestresst ist“, sagt Esther Nikaes. Die Kinder profitierten aber auch dadurch, dass sie andere Kinder kennenlernen, die in ähnlichen Situationen leben. „Es gibt Kinder, die gemobbt werden und als Sonderling gelten, weil sie nur einen Elternteil haben. Bei uns blühen sie richtig auf, weil sie merken, dass andere auch so leben und das ganz normal ist – schließlich wird jede zweite Ehe geschieden“, sagt Dalila Wettki.
Von Bayern bis Berlin
Für die Alleinerziehenden selbst sei die Gemeinschaft ein wichtiger Anker. „Alleinerziehende sind ganz oft verzweifelt, weil sie denken, dass sie mit ihren Sorgen, Schuldgefühlen oder Versagensängsten allein sind. Hier spüren sie: Ich bin gar nicht allein, es geht anderen auch so.“ Ganz nach dem VAMV-Motto „Einzeln, nicht allein“, das auch Titel einer Foto-Wanderausstellung ist, die in allen Landkreisen Station machen wird. Auf Roll-Ups erzählen Alleinerziehende aus dem Saarland mit persönlichen Bildern und Geschichten von ihren Stärken. Gerade Alleinerziehende würden sich selbst besonders stark unter Druck setzen, um allen gerecht zu werden. „Sie denken, sie müssen allen beweisen, dass sie es allein schaffen und vergessen vor lauter Sorge um andere ihre eigenen Bedürfnisse“, sagt Wettki.
Neben der Vernetzung und Gemeinschaft ist der VAMV auch politisch aktiv. Er pocht bei Ministerien und Parteien auf Verbesserungen und gibt bei Gesetzesänderungen Stellungnahmen ab. Das Hauptproblem sei nach wie vor, dass es zu wenig Betreuungsplätze gebe, sagt Esther Nikaes. „In Saarbrücken ist ein Kitaplatz wie ein Lottogewinn. In den Randzeiten ist es besonders schwierig.“ Ein weiteres Problem sei die drohende Altersarmut durch zu niedrige Renten, da gerade Frauen häufig in Teilzeit arbeiteten. Wichtig sei aber auch eine familienfreundlichere Einstellung in Unternehmen. „Oft heißt es: Alleinerziehende fallen ständig aus, wenn das Kind krank ist. Aber sie haben auch immense Stärken, weil sie unglaubliche Organisationstalente sind. Sie sind es gewohnt, flexibel zu sein und umplanen zu müssen.“
Die Kinder von Esther Nikaes sind mittlerweile erwachsen und eng mit dem Verband verbunden – und das deutschlandweit. Durch die Kinderbetreuung während der Bundesdelegiertentreffen entwickelte sich eine regelrechte „Clique“ von VAMV-Kindern. „Da sind Freundschaften entstanden, die ewig halten – von Bayern bis Berlin. Drei dieser Clique wohnen mittlerweile in Kiel und unterstützen sich gegenseitig“, sagt Esther Nikaes.
Die Geschichte des VAMV in Bund und Land
Der VAMV-Bundesverband wurde 1967 als „Verband lediger Mütter“ von der Lehrerin Luise Schöffel gegründet, die einen nicht-ehelichen Sohn hatte. 1970 wurde der Name in „Verband alleinstehender Mütter“ (VAM) geändert. Bis 1989 übernahm bei Geburt eines nicht-ehelichen Kindes das Jugendamt die Amtsvormundschaft, was zu Heimunterbringungen des Kindes führte. Der VAM kämpfte für eine Verbesserung der sozialen Lage lediger Mütter. 1989 wurde die automatische Obsorge des Jugendamtes für ledige Mütter abgeschafft.
Im Saarland gründete Ursel Theres im August 1975 den VAM LV Saar e.V., die ebenfalls Mutter eines nicht-ehelichen Kindes war. Was sie in den 60er Jahren erlebte, beschreibt sie so: „Schon im Krankenhaus wollte man mir das Kind gar nicht zeigen, weil ich als Lehrerin es sicher sowieso in ein Heim geben müsste. Einige Wochen später, nach der Rückkehr ins Saarland, musste ich feststellen, dass das Jugendamt die Vormundschaft über mein Kind hatte und diese meinen Eltern übertragen wollte, obwohl ich 24 Jahre alt und, dank der Betreuung des Kindes durch meine Eltern, mein Geld selbst verdienen konnte.“ Ursel Theres, heute 84 Jahre alt, wurde 1996 für ihr Engagement mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.
1976 änderte der VAM seinen Namen in „Verband alleinstehender Mütter und Väter“ (VAMV) und setzte sich für zahlreiche Verbesserungen für Ein-Eltern-Familien ein. Ein wichtiger Erfolg war die Einführung des Unterhaltsvorschusses im Jahr 1980. Weitere Erfolge waren die steuerliche Absetzbarkeit der Kinderbetreuungskosten (1984), die Verlängerung der Bezugsdauer des Unterhaltsvorschusses von drei auf sechs Jahre bis zum zwölften Lebensjahr des Kindes (1993), die Gleichstellung ehelicher und nichtehelicher Kinder (1998) oder der Protest gegen die Abschaffung der Steuerklasse 2 (2002), die 2004 wieder eingeführt wurde.