„Wer pflegt die Babyboomer?“
Die Zahl älterer und pflegebedürftiger Menschen wird in den nächsten Jahren dramatisch zunehmen. Mit „Saar66“ will die Landesregierung einer drohenden Versorgungslücke begegnen. „Gutes-Alter-Coaches“ sollen prüfen, welche Angebote vor Ort fehlen, damit Menschen gesund altern und Pflegebedürftigkeit vermieden wird.
„Wer pflegt die Babyboomer? 2024 wird der geburtenreichste Jahrgang 60 Jahre alt“ – mit dieser Frage beginnt ein im Juni veröffentlichtes, 33 Seiten langes Diskussionspapier namens „Saar66“. Mit diesem Konzept möchte das saarländische Sozialministerium ein „Jahrhundertereignis“ bewältigen: Denn einer sehr hohen Zahl älterer Menschen steht in den nächsten Jahrzehnten eine Versorgungsstruktur gegenüber, die – auch aufgrund des Fachkräftemangels – darauf nicht vorbereitet ist und die es „neu zu denken“ gilt.
„Endlich macht sich das Land auf den Weg, das, was Landesseniorenpläne, der VdK, der Landesseniorenbeirat und die Fachwelt schon seit Jahren fordern, in die Tat umzusetzen“, sagt Wolfgang Steiner, Vorsitzender des Landesseniorenbeirates und Mitglied im VdK-Landesvorstand. „Denn diese Entwicklung ist nicht erst seit gestern bekannt.“
Generationenaufgabe
Die Hauptidee: Die Städte und Gemeinden, in denen die Senioren leben, sollen seniorenfreundlich und „sorgend“ werden. „Das, was heute Pflege ist, sollen morgen sorgende Gesellschaften sein, „Caring Communities“, heißt es in dem Papier. Die Politik wolle mithelfen, schaffe es aber nicht alleine: „Im Kern ist es die stärkste Bevölkerungsgruppe selbst, die mit daran arbeiten sollte, die Strukturen zu entwickeln, die sie im Alter vorfinden möchten. Es ist nicht mehr und nicht weniger als die Generationenaufgabe der Babyboomer selbst – natürlich unterstützt durch die Gesamtgesellschaft“, so das Papier.
„Dem Rückgang lokaler Nahversorgungsstrukturen gilt es mit kreativen Maßnahmen zu begegnen“. Die Rede ist von „Aktivierung von Ressourcen und Hilfepotentialen“ und Quartiersentwicklung. Das Papier zählt auf, welche professionelle sowie ehrenamtliche Strukturen es bereits gibt und betont: „Saar66“ ist „keine Konkurrenzstruktur, sondern führt das Vorhandene intelligent zusammen und arbeitet an bestehenden Lücken“.
Doch wie will die Politik konkret steuern? Ab 2025 fördert das Sozialministerium eine Halbtagskraft in jeder saarländischen Kommune. Diese „Gutes-Alter-Coaches“ sollen bestehende Projekte evaluieren oder neue schaffen und die ehrenamtlichen Strukturen vor Ort unterstützen. „Derzeit haben wir bei Angeboten für Senioren einen Flickenteppich – acht Kommunen haben einen Bürgerbus, in einigen Kommunen gibt es einen Mittagstisch, andere haben Besuchsdienste oder Bewegungsangebote. Das sind alles vereinzelte und zerstückelte Fragmente. Die Coaches oder Kümmerer sollen dabei helfen, diese zusammenzuführen, also solche Angebote flächendeckend zu etablieren. Dabei prüfen sie passgenau, was wo gebraucht wird, denn je nach Kommune gibt es andere Bedarfe“, sagt Wolfgang Steiner.
Zur Umsetzung solcher Angebote bedarf es laut Konzept der „Vernetzung relevanter (haupt- und ehrenamtlicher) Akteurinnen und Akteure“. Die Coaches haben nicht die Aufgabe eines Case-Managers, also die Betreuung einzelner Personen, sondern maximal eine Lotsen-Funktion.
Freiwilliges Programm
Wolfgang Steiner sieht im Einbinden der Kommunen ein wichtiges Anliegen des Sozialverbands erfüllt. „Es ist gut, dass sich die Städte und Gemeinden wieder stärker ums soziale Wohl der Menschen kümmern sollen, denn das ist ihre Verantwortung. Es ist aber zu befürchten, dass manche sich dieser Verantwortung nicht stellen wollen“, sagt Steiner. Denn das Förderprogramm ist freiwillig, die Kommunen sind nicht verpflichtet, die Coach-Stellen einzurichten. „Das war schon immer das Problem. Bisher war es eine reine politische Entscheidung der Mandatsträger vor Ort, ob für Senioren etwas getan wird, ob Seniorenbeiräte eingerichtet werden, die es nur in rund einem Drittel der Kommunen gibt“, so Steiner. Auch bei der Kommunalwahl habe er beobachtet, dass Seniorenpolitik, mit wenigen Ausnahmen, im Wahlkampf kaum eine Rolle spielte. Dass die Städte und Gemeinden, neben den Kreisen, stärker ins Boot geholt werden, hält er für unabdingbar. „Denn das soziale Leben spielt sich ja vor Ort ab und nur vor Ort haben die Verantwortlichen die beste Kenntnis über bestehende Strukturen oder Lücken.“
Soziale Kontakte
Steiner macht auch deutlich, dass es bei den Angeboten nicht nur um Gesundheitsförderung- und Verhaltensprävention – Stichwort gesunde Ernährung und Bewegung – gehen kann, um Pflegebedürftigkeit zu vermeiden. „Soziale Kontakte sind elementar! Die Menschen gehen ja nicht nur wegen dem Essen zum Mittagstisch, sondern um anderen zu begegnen. Dadurch bilden sich häufig auch Freundschaften. Solche Begegnungsorte fördern die soziale Teilhabe und bekämpfen Einsamkeit, was wiederum nachweislich die Gesundheit fördert. Sie tragen dazu bei, dass Menschen auch geistig rege bleiben und länger zuhause wohnen bleiben können. Sie dazu zu befähigen, ist das Ziel von Saar66“, sagt Steiner.
Kritisch sieht Steiner bei dem Programm, dass nicht klar sei, wie lange und wie hoch die Förderung ausfallen wird und wieweit sich möglicherweise Bund und Krankenversicherung an dem Modell beteiligen. „Wie will das Land gewährleisten, dass das Programm nachhaltig wird und sich verstetigt?“, fragt sich der Vorsitzende des Landesseniorenbeirates. Er fordert auch, dass die Seniorenbeiräte in die Arbeit der Coaches integriert werden. „Ich würde mir wünschen, dass die Beiräte eine wichtigere Rolle spielen als im Konzept derzeit vorgesehen, denn sie sind die Stimme der Betroffenen.“