„Hören ist das Wichtigste, was wir haben“
Nisrine Darkaoui leidet an einem seltenen Gendefekt, der Tumore in ihrem Körper wachsen lässt. Mehr als 50 Operationen hat sie überlebt. Vor 14 Jahren ertaubte sie durch eine Hirn-OPkurz fürOperation und kämpft darum, zu verstehen und verstanden zu werden.

Nisrine Darkaoui ist eine Kämpferin. Sie kämpft gegen Ämter und Behörden, um ihre Rechte durchzusetzen und sich als tauber Mensch Gehör zu verschaffen. Doch die 39-Jährige kämpft auch mit ihrem Körper und einem seltenen Gendefekt namens Neurofibromatose Typ 2, kurz „NF2“. Die Erkrankung führt zum Wachstum gutartiger Tumore im gesamten peripheren Nervensystem, vor allem im Gehirn im Bereich der Sinnesorgane sowie am Rückenmark, aber auch an Armen, Beinen, den Rippen oder am Hals.
Seit ihrem fünften Lebensjahr hat sie mehr als 50 Operationen hinter sich gebracht, darunter mehr als 20 schwere und teils lebensbedrohliche Operationen am Kopf. Dabei wurden 14 Gehirntumore entfernt. Mehrmals in ihrem Leben musste sie wieder bei Null anfangen, wieder gehen und sprechen lernen, sich anpassen und umorganisieren. „Ich muss bei jeder OPkurz fürOperation einer Körperverletzung zustimmen. Danach muss ich die physischen und psychischen Schmerzen hinnehmen. Es ist jedes Mal ein Reset und die gleiche Qual. Die Zeit, die ich geraubt bekomme und die Kraft, die ich aufwenden muss, bringt mich oft über meine Grenzen“, sagt Nisrine.
Halbseitig gelähmt
2011, kurz vor ihrem 25. Geburtstag, verliert sie bei der Entfernung eines Hirntumors ihren Gehörsinn. Die OPkurz fürOperation verläuft mit Komplikationen und dauert 14 statt sieben Stunden. In der Folge erleidet Nisrine eine Lähmung des Gesichtsnervs (Faszialisparese) und ist halbseitig gelähmt. Ihre damals 20-jährige Schwester Nora wartet den ganzen Tag. Als Nisrine aus dem künstlichen Koma erwacht und die Stille zum ersten Mal fühlt, blickt sie in die Augen ihrer Schwester und sieht darin Angst und Traurigkeit. „Da wusste ich, dass etwas gewaltig nicht stimmt.“ Sie sieht aber auch Hoffnung. „Das gab mir Mut. Meine Schwester hielt meine Hand fest und ihr Gesicht sagte: Alles wird gut, egal wie schwer es nun ist, ich bin da.“
Als sie ertaubt, ist Nisrine mitten in der Ausbildung bei der Agentur für Arbeit. Bei vielen Lehrgängen muss sie um Schriftdolmetscher kämpfen, bekommt sie nur in prüfungsrelevanten Fächern. Drei Mit-Azubis unterstützen sie – sowohl in der Berufsschule in Speyer als auch bei den Lehrgängen der Agentur. Eine schreibt für sie mit, die andere lernt mit ihr. Auch bei der Abschlussfeier steht sie ohne Dolmetscher da. „Ich habe nur zugeschaut, wie ein Außenseiter. Das hat mich sehr verletzt, denn eine Abschlussfeier erlebt man nur einmal im Leben. Es hat mir gezeigt, dass Menschen mit Behinderung weniger wert sind. Wenn man eine Behinderung oder Krankheit hat, muss man überdurchschnittlich sein, um mitzuhalten. Dabei habe ich doch nur das Bedürfnis, zu verstehen“, sagt Nisrine.
Bei der Kommunikation hilft ihr zwar eine App, doch diese kann nicht alle schnell gesprochenen Worte eines Gesprächs erfassen, vor allem nicht in einer lauten Umgebung. Ob in der App oder auf dem Fernseher: Die Buchstaben müssen groß sein, da auch das Gesichtsfeld von Nisrine beeinträchtigt ist.
Hinzu kommt: Nicht überall funktioniert das Internet – zum Beispiel in Restaurants oder Krankenhäusern. „In einer Klinik wurde ich zu Sachen gedrängt, weil ich nicht antworten konnte. Ich war den Pflegekräften ausgeliefert. Da kam in mir diese Angst auf, dass ich ausgeschlossen werde und dachte: Wie soll ich in dieser Welt bestehen? Wie nimmt man mich ernst? Wie kann ich mit den Ämtern kommunizieren?“
Denn das Hören ist für sie der elementarste der fünf Sinne. „Hören ist das Wichtigste, was wir haben. Wer nicht hört, wird ausgeschlossen. Ob Kino, VHS-Kurse oder Buchlesung – die Auswahl bei der kulturellen Teilhabe minimiert sich stark, wenn es keine Schriftdolmetscher gibt.“ Zudem verliere ein tauber Mensch das spontane Erleben, da die Übersetzung zeitlich verzögert ist.
Wer nicht hören kann, lebe in tiefer Einsamkeit. „Für Hörende ist Stille etwas Besonders, denn sie können Stille hören. Ich kann sie nur fühlen. Für mich ist sie immer präsent. Wenn ich die Augen schließe in einem lauten Raum voller Menschen, bin ich allein. Das fühlt sich sehr einsam an.“ Auf der anderen Seite fällt sie als tauber Mensch auf und steht ungewollt im Mittelpunkt, wenn sie anderen ihre Behinderung erklärt – mit unbewusst lauter Stimme, weil sie ihre eigene Stimme nicht hören kann.
Ein weiterer Kampf, den sie führt, sind Gesichtslähmungen nach den OPs. „Ich sah in den Spiegel und erkannte mich nicht. Es fühlte sich an, als hätte ich mein Gesicht, meine Identität verloren. Und mein Lachen war weg, das mich immer so motiviert hat. Dadurch wurde ich jeden Tag an meine Krankheit erinnert.“
Im Juli 2023 geht es für Nisrine um Leben und Tod. Erst vor wenigen Monaten hatte sie eine schwere Operation hinter sich gebracht. Als sie morgens aufwacht, plagen sie Übelkeit und Schwindel. „Mein ganzer Körper kribbelte, meine rechte Seite war taub und mein Gesicht halbseitig gelähmt. Ich dachte, vielleicht ist es nur ein schlechter Tag. Ich hatte mich doch gerade erst rausgekämpft. Es war ein schöner Sommer. Ich wollte es nicht wahrhaben und habe mich auf die Arbeit geschleppt. Ich war so sauer auf meinen Körper“, erinnert sich Nisrine.
Gefährliche Not-OP
Ihr Arzt schlägt Alarm: Sie muss wieder nach Erfurt ins Klinikum, das sich auf Neurofibromatose spezialisiert hat. Dort blickt sie in geschockte Gesichter. „Die Ärzte haben nicht gedacht, dass ich das überlebe, weil der Tumor schon den Hirnstamm verdrängt hat. Es war eine sehr gefährliche Not-OPkurz fürOperation. Ich hatte unfassbare Schmerzen und wollte nur, dass es aufhört und ich nicht mehr kämpfen muss. Dennoch habe ich meine Schwester Nora beruhigt und ihr gesagt: Alles wird gut. Diese OPkurz fürOperation schaffe ich.“ Ihre Devise ist: „Hoffen allein genügt nicht. Man darf keine Zweifel haben.“ In diesem Moment weiß sie noch nicht, dass sie danach für mehrere Monate ein Pflegefall sein wird, doch sie hat gelernt: „Nach der OPkurz fürOperation entscheidet jedes Mal der Körper.“
Nach dem Eingriff verschlechtert sich ihr Zustand. „Ich hatte starke Schmerzen, konnte nicht sprechen und kaum noch sehen, weil ein Auge blind war und das andere halbblind. Es war die Hölle.“ Ihre Schwester erkennt, dass etwas nicht stimmt und schlägt Alarm. Die Ärzte stellen eine Hirnschwellung fest. „Damit hat sie mir das Leben gerettet. Sie ist der Fels in meiner Brandung und geht oft weit über ihre Grenzen. Was andere verdrängen und ich nicht verdrängen kann, hält sie aus und steht es mit mir durch.“
Einige Wochen später kommt Nisrine nach Hause, als Pflegefall. Nachts hat sie Erstickungsanfälle oder muss sich erbrechen. Am Rollator schafft sie nur kleine Schritte. Ihre Schwester Wissam, damals 20 Jahre, ist rund um die Uhr an ihrer Seite, drei Monate lang, hilft ihr beim Anziehen, Duschen oder aufs Klo zu gehen. Nisrine ist ihr unendlich dankbar, wie all ihren Geschwistern.
Die 39-Jährige hat lernen müssen, von anderen abhängig zu sein. „Es war schwer für mich, 70 Prozent meiner Autonomie abzugeben. Die 30 Prozent, die mir bleiben, lebe ich voll. Ich bin komplett durchorganisiert, sonst könnte ich nicht alleine wohnen. Ich würde nur existieren, aber nicht leben“, sagt Nisrine. Ihre Leistungsfähigkeit ist stark eingeschränkt, so dass sie Unterstützung im Haushalt und beim Einkaufen benötigt. Beim Gehen hat sie Gleichgewichtsstörungen, muss Pausen machen und erleidet öfter Stürze. An manchen Tagen muss sie starke Schmerzmittel nehmen.
Um ihren Lebensstandard zu halten, arbeitet sie 20 Stunden in der Woche. „Die Arbeit ist mir wichtig, um einen Alltag zu haben und nicht völlig isoliert zu sein. Man traut uns Menschen mit Behinderungen nichts zu, will uns lieber in Werkstätten sehen statt auf dem ersten Arbeitsmarkt. Wer arbeiten will, muss sich Inklusion erst erkämpfen. Dabei ist doch jeder von uns normal, denn jeder hat seine eigene Norm, die sich anders definiert. Was wir in dieser Welt wirklich brauchen, ist ganz viel Verständnis.“
Immer wieder begegnet ihr das Vorurteil, dass sie doch hören und verstehen könne, weil sie sprechen kann. Darum ist ihr eine gute Bildung und Inklusion extrem wichtig. „Ich musste in meiner Ausbildung um meine Rechte kämpfen. Das meiste habe ich gelernt, weil ich meine eigene Strafverteidigerin bin, obwohl ich keine Straftat begangen habe. Ich muss den Ämtern beweisen, dass ich krank bin und erklären, worauf ich nach dem Gesetz einen Anspruch habe, weil die Welt auf gesunde Menschen ausgerichtet ist. Aber ein Nachteilsausgleich ist keine Bevorzugung. Viele denken, ich würde kostenlos mit Bus und Bahn fahren, doch die Wertmarke kostet 104 Euro. Das ist kein Vorteil, sondern ein Ausgleich für meine schwere Erkrankung. Der Preis ist meine Gesundheit – der höchste Preis, den man zahlen kann.“
In ihrem Leben fühlt Nisrine sich oft als Bittstellerin, weil sie um alles kämpfen muss, obwohl sie eigentlich keine Kraft hat – aber auch keine Wahl. Um die Reha, die zunächst abgelehnt wurde. Das Merkzeichen gehörlos, ebenfalls zunächst abgelehnt. Die Augentropfen, die von der Krankenkasse nicht mehr bezahlt wurden. Wegen der Hirntumore produzieren ihre Augen keine Tränenflüssigkeit – die Tropfen verhindern Entzündungen und damit eine Erblindung. Neun Monate kämpfte Nisrine um eine Kostenübernahme der Tropfen.
Hauslehrer abgelehnt
Auch die Gebärdensprache wollte sie lernen, doch ein Hauslehrer dafür wurde zunächst abgelehnt, mit der Begründung, dass die 39-Jährige sprechen könne. Der Weg zur VHS mit öffentlichen Verkehrsmitteln ist in ihrem Gesundheitszustand laut ärztlicher Atteste zu riskant.
Nisrine will sich für Gerechtigkeit und den Abbau von Barrieren einsetzen, solange sie die Kraft noch hat. Denn die Tumore in ihrem Hirn wachsen weiter, die Ärzte gehen von einem schweren Verlauf aus. Nisrine ist müde von dem Kampf, den Schmerzen und den Barrieren.
Dennoch ist sie dankbar und sogar glücklich. „Das Schönste ist, dass durch die Zeit, als ich ein Pflegefall war, die Schnelligkeit aus meinem Leben verschwunden ist. Wenn ich heute müde bin, versuche ich nicht mehr, über meine Grenzen zu gehen, sondern mache etwas Schönes. Langsamer und ruhiger zu werden, hat meinen Horizont erweitert. Und ich habe erkannt: Zeit und Gesundheit sind das Wichtigste, was wir haben.“
Heute konzentriert sie sich darauf, das Leben zu genießen. „Alles, was Zeit raubt und Schmerzen bringt, ist schlimm. Aber man muss versuchen, das Positive zu sehen, sich auf das Gute im Leben konzentrieren. Jede Barriere und Einschränkung muss ich in etwas Gutes umwandeln, das mein Leben trotzdem bereichert. Ich versuche, in meiner dunklen Welt eine eigene, schöne Welt zu kreieren. “
Unglück und Glück könne man nicht beeinflussen, aber die eigene Einstellung schon. „Ich bin ein positiver Mensch mit viel Lebensfreude. Ich versuche, glücklich zu sein und mich an kleinen Dingen zu erfreuen, die Sonne zu genießen oder die Zeit mit Freunden und Familie. Niemand kann uns glücklich machen außer wir selbst. Man kann nicht die ganze Welt retten, aber jeder hat die Chance, die Welt von jemand anderem zu verbessern.“