Kategorie Armut & Umverteilung

Kinderhaus: „Was den Kindern am meisten fehlt, ist Ruhe“

Fast jedes zweite Kind in Malstatt wächst in Armut auf. Seit fast zwanzig Jahren ist das Kinderhaus in dem Saarbrücker Stadtteil eine wichtige Anlaufstelle, um Perspektiven zu schaffen.

© Maria Wimmer/VdK

Im ersten Stock sitzen ein paar Kinder an einem Tisch und basteln. Zwei Mal pro Woche haben ein Dutzend Kinder im Alter zwischen vier und sechs Jahren die Chance, Kontakt zu Gleichaltrigen zu bekommen. Dieses „Brückenangebot“ für Kinder, die keinen Kitaplatz haben, ist eines von vielen, mit dem das Kinderhaus Malstatt die stark verbreitete Kinderarmut in dem Viertel lindern möchte. 

„Wir erleben es nahezu täglich, dass verzweifelte Eltern vor unserer Tür stehen. In Malstatt fehlen rund 200 Plätze für über 3-Jährige. Diese Kinder werden völlig unvorbereitet in die Schule geschickt. Die Abwärtsspirale ist vorgezeichnet“, sagt Carsten Freels, langjähriger Mitarbeiter des Kinderhauses. Vor allem für Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund, in denen zuhause wenig Deutsch gesprochen wird, sei das fatal.

Schimmlige Wohnungen

Bildung ist für den Erziehungswissenschaftler der Schlüssel, um eine Perspektive zu bieten – doch er kennt auch die schwierigen Verhältnisse, in denen viele Kinder aufwachsen. 90 Prozent der Familien seien durch die Armut traumatisiert, vermutet Freels. Laut Statistikamt der Landeshauptstadt lebten 2020 in Malstatt rund 2000 Kinder in Familien, die auf Hartz-IV-Leistungen angewiesen sind – so viele wie in keinem anderen Stadtteil. Bei unter 6-Jährigen ist jede zweite Familie betroffen, schätzt Freels. Die Folge sind unter anderem Ess- und Verhaltensstörungen oder fein- oder grobmotorische Auffälligkeiten.

Die Belastungen seien vielfältig: Drogen- und Alkoholabhängigkeit der Eltern, Langzeitarbeitslosigkeit, Gewalt und Missbrauchserfahrungen, schlechte Ernährung, permanenter Geldmangel, Sprachhürden und beengte Wohnverhältnisse. „Wir wissen, dass die meisten Familien in Wohnungen leben, die so dreckig und verschimmelt sind, dass sie die Gesundheit beeinträchtigen. Viele Kinder haben Husten oder Asthma“, sagt Freels. Was ihnen aber vor allem fehle, sei Ruhe – deshalb gibt es im Kinderhaus einen eigenen Ruheraum mit Sitzsäcken und Hängematten.

„Die meisten unserer Kinder leben in permanentem Stress und sind ständigem Lärm ausgesetzt. Der Fernseher läuft von morgens bis abends. Ein Großteil der Eltern ist nicht in der Lage, bei den Hausaufgaben zu helfen oder Regeln vorzugeben“, sagt Freels.

Die Corona-Pandemie sei ein großer Einschnitt und frustrierend gewesen. „Das Homeschooling war eine Katastrophe für Familien, in denen es weder Internet noch einen Laptop gibt – und das sind die meisten. Alles musste über das Handy der Eltern laufen“, sagt Freels, der vielen Familien dabei half, eine E-Mail-Adresse einzurichten. Die Tablet-Ausleihe würde von vielen wegen der Angst vor der Haftung nicht genutzt.

Zahnhygiene

Im Kinderhaus gibt es auch ein Bücherzimmer zum Lesen und Vorlesen sowie ein Badezimmer. Auf einem Regel stehen ein Dutzend Zahnputzbecher mit den Namen jedes Kindes. „Hier üben wir das Zähneputzen. Der zahnärztliche Gesundheitsdienst kommt regelmäßig vorbei. Zahnhygiene ist ein wichtiger Faktor von Benachteiligung. Wenn Jugendliche faule Zähne haben, können sie sich nirgendwo bewerben“, sagt Freels. Auch gesunde Ernährung steht auf dem Programm des Kinderhauses: durch gemeinsames Einkaufen und Kochen des Mittagessens.

In einem weiteren Raum hängen Geigen an der Wand, daneben steht ein Keyboard. Hier können die Kinder ein Musikinstrument erlernen. Auch eine Kleiderkammer gibt es im Kinderhaus, denn „Klamotten fehlen immer und die Nachfrage ist hoch“.

Einmal pro Woche können sich Eltern bei einem gemeinsamen Frühstück austauschen, einmal monatlich findet eine Elternschule zu Erziehungsfragen statt. „Meine Tochter war sehr oft hier. Aber was hier passiert, geht weit über Angebote für Kinder hinaus“, sagt ein alleinerziehender Vater. „Woanders bekommen die Eltern oft nicht mit, was mit ihren Kindern passiert. Bei uns werden sie stark miteingebunden“, sagt Freels.

Auch kulturelle Benachteiligung wird hier in Angriff genommen. „Da gibt es eine große Hemmschwelle. Viele dieser Familien trauen sich allein nicht ins Museum oder Theater, auch wenn man ihnen Karten gibt. Deshalb begleiten wir sie dabei.“

Das Kinderhauses arbeitet eng mit anderen Institutionen im Viertel wie Schulen, Sucht- und Schuldnerberatungsstellen, Jugendzentren oder dem Jugendamt zusammen. Durch regelmäßige Hausbesuche haben er und seine Mitarbeiterin Christiane Köck Einblick in die schwierigen Lebensverhältnisse. Seine Mission sieht er darin, die Familien trotz der Armutsverhältnisse widerstandsfähig zu machen und die Bildungs- und Lebenschancen der Kinder zu verbessern. Die Arbeit des Kinderhauses wird regelmäßig durch das Saarbrücker iSPO-Institut überprüft und begleitet. „Zwei Drittel der Kinder nimmt einen guten Weg. Ein Fünftel geht aufs Gymnasium. Manche machen ein Studium. Darauf sind wir stolz“, sagt Freels.

Über das Kinderhaus

Das Kinderhaus wurde 2003 gegründet. Der Träger ist die Diakonie Saar. Es wird zusätzlich gefördert vom Regionalverband Saarbrücken. Neben Carsten Freels ist eine feste Mitarbeiterin und eine FSJ-Kraft im Einsatz sowie drei Ehrenamtliche und weitere Praktikanten. Viele Angebote werden über Spenden finanziert. Täglich besuchen rund 30 Kinder sowie etliche Eltern das Kinderhaus, um sich Unterstützung zu holen.