Einer, der jeder Beschwerde nachgeht
Seit 2013 ist Jürgen Bender Pflegebeauftragter – ein Amt, das es außer im Saarland nur in Bayern gibt. Ende Oktober wurde Bender mit dem Evangelischen Freiheitspreis ausgezeichnet. Im Interview spricht der 77-Jährige über die Sorgen der Pflegenden.
Wie viele Fälle haben Sie seit 2013 betreut?
Das waren sicher weit über tausend. Sie füllen über 150 Akten-Ordner. Der Schwerpunkt der Anfragen kommt aus dem Bereich der stationären Pflege, deutlich geringer sind Anfragen aus der ambulanten Pflege oder dem Krankenhausbereich. Fast immer ist die Ursache eine mangelhafte Kommunikation, meist zwischen Pflegeheim und Angehörigen. Es geht um die Frage: Wer spricht mit wem und in welchem Ton? Das Gute ist, dass sich eigentlich fast alle Probleme durch Gespräche lösen ließen. Und gleichzeitig beobachte ich auch, wie sich Menschen mit Hingabe um Ältere kümmern und dass es – trotz mancher Beschwerden – in der Mehrzahl der Fälle sehr gut klappt.
Um welche Themen geht es?
Es ist ein bunter Strauß an Problemen, für jeden Buchstaben des Alphabets könnte ich ein Beispiel finden. Die Fragen reichen vom Umgang mit dementen Bewohnern über Rechnungen, Heimverträge, Pflegegrade und der Pflegeversicherung allgemein bis zum Verschwinden von Kleidungsstücken, Medikation, Ernährung und mangelnde Hygiene. Wobei auch hier klar gesagt werden muss: Menschen haben das Recht, sich selbst zu vernachlässigen, das gehört zu ihrer Autonomie.
Erinnern Sie sich noch an Ihren ersten Fall?
Ja, denn da ging es um Gewalt: Ein älterer Mann hatte blutige Kratzer im Gesicht. Die Schwiegertochter hatte es gut gemeint und eine Rasur verlangt. Der Mann wollte sich aber nicht rasieren lassen, er hat sich gegen die Pfleger gewehrt. Gewalt in der Pflege kommt vor, aber es ist keine große Zahl. Die Ursache – egal ob im Pflegeheim oder zuhause – ist meistens Überforderung.
Wie viel Zeit verbringen Sie mit Ihrem Ehrenamt?
Ich bin jeden Tag unterwegs, an manchen Tagen von morgens bis abends. Pro Monat lege ich rund 1500 Kilometer zurück. Man kann das durchaus als Vollzeitjob bewerten.
Wie steht es um die ärztliche Versorgung?
In Pflegeheimen gilt die freie Arztwahl, es gibt in der Regel keine Heimärzte. Das heißt, die Ärzte machen nach ihrer Praxiszeit Hausbesuche im Pflegeheim. Die Einrichtungen haben die Möglichkeit, Kooperationsverträge mit bestimmten Ärzten abzuschließen, damit nicht zu viele Ärzte ein- und ausgehen. Das wird aber nicht von allen genutzt. Ziel ist auch, Krankenhauseinweisungen zu vermeiden, die für pflegebedürftige Menschen viel Stress bedeuten. Noch schwieriger ist die fachärztliche Versorgung, da viele Untersuchungen nicht im Pflegeheim durchgeführt werden können, etwa urologische, augen- oder zahnärztliche Behandlungen.
Sie besuchen Pflegeheime auch ohne Ankündigung. Was erleben Sie da?
Viele eindrucksvolle Dinge. Einmal habe ich mich in einen Speisesaal gesetzt, wo eine ältere Frau 20 Minuten nach einer Schwester gerufen hat. Nachdem ich einen Benachrichtigungsknopf gedrückt hatte, dauerte es weitere zehn Minuten, bis jemand kam. Als Erklärung hieß es auf Saarländisch: „Ich bin jo do“ und „Die schreit immer“. Hier wird deutlich, dass es deutlich mehr Schulung braucht – sowohl im Umgangston als auch im Umgang mit demenzkranken Menschen allgemein. Ein anderes Mal habe ich in einem Speisesaal beim Abendessen Nachschlag verlangt, da beanstandet worden war, dass es in diesem Heim keinen Nachschlag gebe. Die asiatische Hilfskraft verstand mich nicht, streichelte mir über den Kopf und gab mir Tee.
Sie sprechen Demenz an – wie stark ist sie verbreitet?
Das Durchschnittsalter in Pflegeheimen liegt bei 83 Jahren, viele Bewohner versterben bereits in den ersten sechs Monaten. In der Regel kommen sie dorthin, weil die Angehörigen keine Kraft mehr haben, sie zuhause zu versorgen. Man geht davon aus, dass 60 bis 80 Prozent der Heimbewohner unter einer Demenz leiden – in unterschiedlichem Ausmaß. Die einen haben eine Weglauftendenz, die anderen schreien stundenlang. Das überfordert viele Einrichtungen. In einem Heim wurde versucht, zwei „Schreibewohner“ zusammenzulegen – das kam einem vor wie Dantes Vorhölle.
Im Bereich der häuslichen Pflege haben Angehörige Ihnen berichtet, dass Pflegedienste Leistungen ablehnen.
Hier gibt es eindeutig Mängel. Ich werde mit den Pflegekassen Gespräche führen, um sie wachzurütteln. Es ist ihre gesetzliche Aufgabe, für ein leistungsfähiges Netz an ambulanten Diensten zu sorgen. Es darf nicht so weit kommen, dass Rosinenpickerei betrieben wird. Mir wird aber immer wieder berichtet, dass Dienste Behandlungspflege ablehnen, weil sie nicht ausreichend vergütet ist. Betroffen sind vor allem ländliche Gebiete mit weiten Anfahrten. Ich habe auch schon erlebt, dass Pflegedienste Sonderverträge mit den Versicherten bezüglich der Fahrkosten geschlossen haben, was jeder rechtlicher Grundlage entbehrt.
Sie haben in Ihrem vierten Pflegebericht kritisiert, dass Krankenkassen sich einen schlanken Fuß machen, wenn sie nur Telefonlisten herausgeben. Wie meinen Sie das?
Nur eine Telefonliste herauszugeben, ist keine echte Vermittlung. Wenn der Pflegebedürftige zehn Dienste anruft und jeder ihm eine Absage erteilt, ist ihm ja nicht geholfen. Die Kassen müssen sich darüber Gedanken machen, wie sie ihrer Pflicht besser nachkommen. Denn jeder Pflegebedürftige hat einen Rechtsanspruch auf Versorgung, und die Kasse geht damit ein Prozessrisiko ein – analog zum Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz, den ja auch schon einige Eltern eingeklagt haben.
In Ihrem Bericht kritisieren Sie auch den hohen bürokratischen Aufwand, um sich im Saarland als Nachbarschaftshelfer registrieren zu lassen.
Hier wird einfach zu viel Geschiss und Umstandskrämerei gemacht, nämlich mehr als beim Pflegegeld selbst. Die Intention, alte, alleinstehende Menschen vor Fremden zu schützen, ist gut, schießt aber übers Ziel hinaus. Denn in der Regel kennen die Betroffenen ihre Nachbarn oder Bekannten schon seit langer Zeit. Da hier Bundesrecht zugrunde liegt, kann das Saarland alleine nicht viel machen. Ich plädiere für eine Vereinfachung, der Entlastungsbetrag von 125 Euro pro Monat sollte direkt an die Betroffenen ausgezahlt werden.
Der Eigenanteil für pflegebedürftige Heimbewohner stieg zuletzt auf 3166 Euro pro Monat. Was muss hier passieren?
Die Pflegeversicherung wurde 1995 eingeführt, weil damals vier von fünf Pflegebedürftigen in die Sozialhilfe fielen. Heute sind wir im Saarland fast wieder soweit, denn knapp 70 Prozent der Heimbewohner müssen Hilfe zur Pflege beantragen. Wir müssen uns fragen, ob ein Mensch, der sein ganzes Leben gearbeitet hat, wirklich am Lebensende zum Taschengeldempfänger werden soll. Die Pflegeversicherung muss anders finanziert werden, entweder durch höhere Beiträge oder durch Steuermittel. Gleichzeitig muss aber auch die häusliche Pflege gestärkt werden, denn die Zahl pflegebedürftiger Menschen wird zunehmen.
Wie sieht die Lage bei jüngeren Menschen mit Pflegebedarf aus?
Hier haben wir im Saarland leider einen eklatanten Mangel an stationären Einrichtungen. Inzwischen leben rund 600 Menschen in Pflegeheimen – wo der Altersdurchschnitt bei 83 Jahren liegt. Dort wird man ihren Bedürfnissen nicht gerecht, weil die Personalausstattung dafür fehlt und weil das Personal nicht dafür ausgebildet ist. Das Schlimme ist, dass diese Situation seit Jahren bekannt war und nichts getan wurde. Wenn bekannt ist, dass Angebote fehlen und die Politik kümmert sich nicht darum, dann ist das in meinen Augen skandalös. Meine Verantwortung sehe ich darin, die Verantwortlichen am Revers zu packen, damit etwas passiert. Nach einer Initiative des damaligen Landesbehindertenbeauftragten Daniel Bieber und mir hat das Gesundheitsministerium Gespräche mit Trägern angestoßen, um solche Strukturen ins Leben zu rufen. Ich werde dahinter bleiben!
Evangelischer Freiheitpreis 2024
Jürgen Bender ist am 31. Oktober mit dem Evangelischen Freiheitspreis Saar ausgezeichnet worden. Als Pflegebeauftragter setze sich der 77-Jährige, der auch VdK-Mitglied ist, „mit großem Engagement für die Belange Pflegebedürftiger und ihrer Angehörigen ein“, so die Begründung der Jury. Er sei jederzeit ansprechbar, nehme sich viel Zeit für die Betroffenen und positioniere sich auch öffentlich hinsichtlich Missständen in der Pflege.
Darüber hinaus brachte sich der frühere Präsident des Landessozialgerichts viele Jahrzehnte ehrenamtlich in zahlreiche sozial-diakonische Gremien ein. Mit seiner Zuwendung und Geduld habe Bender Maßstäbe gesetzt und vielfach „zur nachhaltigen Akzeptanz unserer demokratischen Ordnung beigetragen“, betonte der ehemalige VdK-Landesvorsitzende und langjährige Weggefährte Benders bei der Armutsbekämpfung, Armin Lang. Als Pflegebeauftragter gehe er wirklich jeder Frage, jeder Beschwerde nach und versuche, eine Lösung zu finden, ergreife aber auch Partei, falls nötig. Insbesondere zeichne Bender sein „Respekt einem jeden Menschen gegenüber, die Anerkennung der Würde eines Jeden, ganz gleich mit welcher Bildung, aus welchem Beruf oder sozialem Stand“ aus.
Trotz aller Ämter und Funktionen sei Bender ein „nahbarer und feinfühliger Mensch“ und stets bodenständig geblieben, einer, „der weiß, woher er kommt und wohin er gehört“, betonte Lang.
Der Evangelische Freiheitspreis Saar der Kirchenkreise und Kirchenbezirke wird im Rahmen des Reformationsempfangs der Evangelischen Kirchen im Saarland verliehen.