Ein Leben für die Inklusion
Fast 30 Jahre hat sich Bernhard Müller in der Lebenshilfe St. Wendel engagiert. Dafür hat er im August das Bundesverdienstkreuz erhalten. Der 76-Jährige ist zudem seit diesem Jahr Mitglied im Schlichtungsausschuss des VdK Saarland.
Für andere Menschen da sein, die Hilfe brauchen – das war für Bernhard Müller wie eine Triebfeder. Denn der diplomierte Sozialpädagoge und langjährige Vorsitzenden der Lebenshilfe St. Wendel erfuhr sehr früh, wie hart das Leben zuschlagen kann. Seine erste Frau starb im Alter von 31 Jahren an Brustkrebs, sechs Jahre später sein jüngster Sohn mit 13 Jahren an Blutkrebs. „Für uns alle ist wichtig, ein soziales Umfeld in Notsituationen zu haben. Sich für andere einzusetzen, hat mir dabei geholfen, über meine Trauer hinwegzukommen. Sich zurückzuziehen und zu isolieren, hilft am allerwenigsten“, sagt Müller.
Nach dem Tod seiner Frau konnte der junge Vater, der damals das Jugendamt in St. Wendel leitete, auf die Unterstützung seiner Eltern und Schwiegereltern bei der Betreuung der beiden minderjährigen Kinder zählen. 1987 übernahm er den Vorsitz der Lebenshilfe im Kreis St. Wendel, den er – mit Unterbrechungen – fast 30 Jahre lang innehatte. „Die Lebenshilfe hatte damals rund 200 Betreute und etwa 40 Mitarbeitende, es gab nur eine Tagesförderstätte (TAF) und eine Frühförderung. Viele Eltern von Kindern mit Behinderungen hatten keine Betreuung und waren auf sich gestellt. Es gab kein Wohnangebot für erwachsene Menschen mit Behinderung, manche lebten völlig verwahrlost in ihren Familien“, erinnert sich Müller.
Zusammen mit dem ehrenamtlichen Vorstand und dem ersten hauptamtlichen Geschäftsführer Hermann Scharf setzte er sich für einen Ausbau ambulanter und stationärer Angebote ein. Zunächst wurde die TAF erweitert und barrierefrei ausgebaut. 1993 wurde das erste Wohnheim für Menschen mit Behinderung eröffnet. Zehn Jahre später wurde das „selbstbestimmte Wohnen“ in von der Lebenshilfe angemieteten Wohnungen eingeführt. 2011 eröffnete ein integrativer Kindergarten mit 78 Plätzen.
Heute kümmert sich die Lebenshilfe in den Kreisen St. Wendel und Merzig-Wadern rund 1500 Menschen mit fast 800 Mitarbeitenden. Denn 2005 übernahm die Lebenshilfe St. Wendel die operativen Geschäfte des Lebenshilfe-Vereins Merzig-Wadern, um dessen Angebote vor der Insolvenz zu bewahren. 2019 gründete die Lebenshilfe St. Wendel zudem die „Nordsaarland Werkstätte“, um rund 100 Arbeitsplätze von behinderten Menschen des Tiefkühlkost-Herstellers Paulus in Merzig und Rehlingen vor der Insolvenz zu retten. „Solche Arbeitsplätze sind sehr wichtig für behinderte Menschen. Sie geben ihnen nicht nur eine Tagesstruktur, sondern auch eine Bedeutung und ein soziales Umfeld“, sagt Müller.
119 Menschen mit Behinderungen leben in den drei Wohnheimen, von denen eines den Namen „Bernhard Müller“ trägt. Weitere 91 leben in der Form des „selbstbestimmten Wohnens“. Ältere Bewohner werden in Seniorengruppen betreut. Jüngere Bewohner werden tagsüber in der TAF betreut oder sie arbeiten auf dem Wendelinushof oder in Werkstätten.
Bei der Entwicklung der Wohnformen zeigt sich der Wandel in der Behindertenarbeit. So seien Menschen mit geistigen Behinderungen bis Anfang der 90er noch „psychiatriert“ und weggesperrt worden, wenn sie auffällige oder aggressiv Verhaltensweisen zeigten. „Ich habe Menschen gesehen, die ans Bett gefesselt und sehr stark medikamentiert waren. Es waren schlimme Zustände“, erinnert sich Bernhard Müller an einen Besuch der Zentralpsychiatrie in Merzig. Diese wurde mit der Psychiatriereform 1995 aufgelöst. Einige Patienten kamen nach St. Wendel in therapeutische Wohngruppen, das Personal wurde auf den Umgang mit aggressivem Verhalten vorbereitet.
Eine Herausforderung sieht Müller im Älterwerden von Bewohnern, wenn Pflegebedarf hinzukommt. „Unser Ziel ist, dass die Menschen hierbleiben und auch hier sterben können. Es kommt selten vor, dass jemand in ein Pflegeheim muss“, sagt Müller. Kritisch sieht er, dass Leistungen der Pflegeversicherung für Menschen mit Behinderungen ab Pflegegrad 2, die in besonderen Wohnformen leben, auf 266 Euro pro Monat gedeckelt sind.
„Menschen mit Behinderungen waren in St. Wendel immer sichtbar, sie gehörten zum Stadtbild“, erinnert sich Gerlinde Koletzki-Rau, Vorsitzende des VdK-Kreisverbandes St. Wendel. Beim VdK-Landesverbandstag im Juni ist Bernhard Müller in den Beschwerde- und Schlichtungsausschuss des VdK gewählt worden. „Ich kannte bereits viele Ehrenamtliche im VdK. Ein Verband, der sich für Menschen mit unterschiedlichen Hilfebedarfen einsetzt. Viele Menschen brauchen den Sozialverband, weil die Komplexität im Sozialrecht immer größer wird. Deshalb engagiere ich mich gerne im VdK“, sagt Müller.
Eine weitere große Herausforderung sei der Fachkräftemangel, der dazu führe, dass theoretisch vorhandene Plätze nicht betrieben werden können. Darum hat die Lebenshilfe St. Wendel junge Menschen aus Vietnam angeworben. Zudem werden Mitarbeitende in der Sterbebegleitung geschult, um den Tod von langjährig Betreuten besser bewältigen zu können. „Wir dürfen lernen, mit dem Tod umzugehen und uns an die schöne Zeit erinnern, die wir mit den Menschen hatten, die von uns gehen. Das Sterben gehört zum Leben“, sagt Müller.
Zur Person
Nach seinem Studium der Sozialpädagogik in Köln arbeitete Bernhard Müller zunächst als Jugendarbeiter für das Bistum Speyer, bevor er 1977 Jugendpfleger beim Jugendamt St. Wendel wurde, das er später auch leitete. Von 1996 bis 2001 war Müller Sozialdezernent beim Landkreis St. Wendel, danach wechselte er ins Sozialministerium. Von 2005 bis 2013 war Müller Geschäftsführer der Werkstatt für Behinderte der Lebenshilfe gGmbH in Spiesen-Elversberg (WZB) mit 1300 Mitarbeitenden, zu der auch der Wendelinushof gehört. Fast 30 Jahre war Müller zudem ehrenamtlich Vorsitzender der Lebenshilfe St. Wendel und später auch Aufsichtsratsvorsitzender der dazugehörigen gemeinnützigen GmbH sowie der Nordsaarland-Werkstätte. Von 2011 bis 2023 war Müller zudem Landesvorsitzender der Lebenshilfe Saarland. 2023 legte er seine Ämter nieder und wurde Ehrenvorsitzender der Lebenshilfe St. Wendel.