Kategorie Inklusion

„Auf der Erde ist es meistens viel zu laut“

Von: Maria Wimmer

Der Film „Grüße vom Mars“ zeigt, wie ein autistischer Junge die Welt wahrnimmt und was er braucht, um sich sicher zu fühlen. Nach der Kino-Matinee im Saarbrücker Filmhaus tauschten sich die Gäste mit einer Expertin des Autismus-Verbandes aus. 

Der Film "Grüße vom Mars" zeigt, wie ein autistischer Junge Veränderungen bewältigt. Die Reise zu den Großeltern wird für ihn eine Test-Expedition zum Mars. © Farbfilm-Verleih

„Wenn du Oma und Opa schaffst, schaffst du es auch zum Mars“ – mit diesem Satz versucht Vera, ihren autistischen Sohn Tom davon zu überzeugen, die Sommerferien bei den Großeltern zu verbringen, damit die alleinerziehende Mutter einen befristeten Korrespondentenjob in China annehmen kann. Der Kinofilm „Grüße vom Mars“, der im Mai im Saarbrücker Filmhaus ausgestrahlt wurde, zeigt mitfühlend und humorvoll, welche Herausforderungen Veränderungen für Autisten und ihre Umwelt bedeuten. 

Der Film macht deutlich, dass das Gehirn von Menschen mit Autismus Reize und Informationen anders wahrnimmt und verarbeitet. Die Folge: Es kommt sehr schnell zu einer Reizüberflutung und Schwierigkeiten in der zwischenmenschlichen Kommunikation. Über diese neurologischen Besonderheiten möchte der Autismus-Verband aufklären, der zu der Kino-Matinee mit anschließendem Austausch eingeladen hatte.

Tom zieht sich gerne in einen Schrank zurück, um seine Ruhe zu haben und sich vor Reizen zu schützen. Seine Mutter, gespielt von Tatort-Kommissarin Eva Löbau, will mit ihm über ihre Job-Pläne sprechen und öffnet die Tür. Tom sieht nur eins: Ihren roten Nagellack. 

Tom zieht sich gerne in einen Schrank zurück, um Ruhe zu haben. © Farbfilm-Verleih

„Es gibt 72 Rottöne und 54 davon kann ich nicht leiden“, hört man Toms Gedanken. An der Schrankwand hängen dutzende Buntstifte in verschiedenen Blautönen, denn Blau ist seine Lieblingsfarbe. 

Was Reizüberflutung für Tom bedeutet, zeigt der Film gleich am Beginn, als seine Mutter im Wohnzimmer auf ihn einredet. Er nimmt nur noch Wortfetzen wahr, während seine Aufmerksamkeit von seinen Stiften, von Blautönen im Hintergrund oder vom Wasserrauschen der Leitung in der Küche absorbiert wird. Als sein Bruder noch ein Surfbrett auf den Boden knallen lässt, ist er vollends überfordert. Dann hilft nur eins: Kopfhörer auf und die Geräusche eines Raumschiffs hören, die ihm sein verstorbener Vater aufgenommen hat. Toms Fazit: „Auf der Erde ist es meistens viel zu laut.“ 

„Während ein neurotypischer Mensch Geräusche, Stimmen oder Licht gut filtern kann und nur einen Bruchteil davon überhaupt bewusst wahrnimmt, prallen auf Autisten Millionen Reize wie ein Presslufthammer ein. Weil der Reizfilter nicht richtig funktioniert, können sie sich nicht dagegen wehren. Ihr Gehirn ist überflutet und kann nicht selektieren, welcher Reiz wichtig ist. Darum fällt es Autisten schwer, einem Gespräch zu folgen und zu verstehen, was das Gegenüber will. 

Anne-Rose Kramatschek-Pfahler, stellvertretende Vorsitzende des Autismus-Verbandes im Saarland, begrüßte das Publikum im Filmhaus. © VdK/Wimmer

Manche neigen deshalb dazu, besonders viel zu reden und den anderen nicht zu Wort kommen zu lassen, damit sie nicht auf den Gesprächspartner eingehen müssen, den sie vielleicht nicht verstehen“, erklärt Anne-Rose Kramatschek-Pfahler, stellvertretende Vorsitzende des Autismus-Verbandes im Saarland.

Auch mit Veränderungen können autistische Menschen schwer umgehen. „Der Grund ist, dass ihr Gehirn die Umgebung visuell in Mustern und Bildern verarbeitet, als würden sie sie abfotografieren. Dieses Bild muss bestehen bleiben. Wenn sich nur eine Kleinigkeit ändert – zum Beispiel eine Wohnungstür wird in einer anderen Farbe gestrichen oder Gegenstände sind plötzlich an einem anderen Platz – ist das, als ob ein Puzzleteil fehlt. Dem Gehirn fehlt die Flexibilität, sich auf Veränderungen einzustellen“, erklärt Kramatschek-Pfahler.

Menschen mit Autismus brauchen daher sich wiederholende Abläufe sowie klare Regeln und Ansagen. Als Toms Mutter ein Problem besprechen will, denkt er: „Problem, das klingt nach Planänderung und ich mag nicht, wenn sich etwas ändert.“ Laut sagt er: „Es ist 18.26 Uhr, noch vier Minuten bis zum Abendessen.“ Als um 18.30 Uhr der Tisch nicht gedeckt ist, wird er unruhig. 

Witze verstehen

Dennoch kann ihn seine Mutter überzeugen, den Aufenthalt bei den Großeltern als Testmission zu sehen für sein großes Ziel: die Mission zum Mars. Tom bereitet sich akribisch vor, breitet seine Sachen schon zwei Wochen vorher linear auf dem Boden aus und leiht sich in der Bücherei Fachliteratur aus. „Du bist ja ein Büchermonster“, sagt eine Frau im Vorbeigehen. Tom blickt ihr irritiert nach. „Das war ein Witz, Tom. Sie findest es toll, dass du so viel liest“, übersetzt seine Schwester. „Da Autisten Sprache wortwörtlich nehmen, haben viele Schwierigkeiten damit, Humor zu verstehen. Manche haben gelernt, über Witze zu lachen. Wie ein Schauspieler, die seinen Text auswendig lernt. Weil sie häufig sagen, was sie denken, und dabei den sozialen Kontext nicht verstehen, wird ihr Verhalten oft als unhöflich oder respektlos wahrgenommen. Hier möchten wir mehr Verständnis und Akzeptanz schaffen“, sagt Kramatschek-Pfahler. 

Als Tom – geschützt durch seinen Raumanzug – auf dem Planeten „Lunau“, in Wahrheit ein fiktives Dorf, landet, verläuft gar nichts nach Plan. Das erste Hindernis: die rote Eingangstür. „Die Tür war früher blau“, versucht Toms Mutter ihn zu beruhigen. Sie nehmen einen anderen Eingang. Das zweite Hindernis: Eine vom Besuch völlig überraschte Oma Hanna in einem roten Pullover. Toms Mutter wirft ihr einen hellen Pulli zu, den diese sich genervt überzieht. Denn erst jetzt erfährt sie, dass die Enkel sechs Wochen bleiben sollen und ihre Portugal-Reise ins Wasser fällt. Während die Familie diskutiert, flüchtet Tom zurück ins Auto. „Auf Lunau herrscht angespannte Stimmung“, notiert er in sein Logbuch. Opa Horst rettet die Stimmung mit Apfelkuchen, den Tom so sehr liebt. 

Als er es doch ins Haus wagt und fragt, ob er die Schuhe ausziehen kann, antwortet Oma Hanna wenig hilfreich: „Das ist egal, hier gibt es keine Regeln“. Toms Mutter übersetzt für ihn: „Die Regel ist: Du kannst sie ausziehen“. Auf einem Zettel hat sie notiert, was Tom alles braucht. Oma Hanna schüttelt den Kopf: „Eine Bedienungsanleitung für ein Kind.“

Der nächste Test auf Lunau ist das Abendessen: Die Tafel ist rund, Tom kann aber nur an eckigen Tischen sitzen und immer rechts am Tischende. Also sitzt er allein an einem Sekretär, denn der ist eckig. Um Punkt 18.30 Uhr beginnt er zu essen, davor hat er Gemüse und Fleisch farblich auf dem Teller sortiert. Auch die Bilderrahmen auf dem Sekretär stellt er so um, dass die Abstände einen exakten 90-Grad-Winkel haben. 

Als Tom im Radio hört, dass ein Asteroid verschwunden ist, ändert er seine Mission. Auf dem Dachboden macht er sich auf die Suche nach Papas Teleskop, während Oma Hanna auf Kindheitserinnerungen ihres verstorbenen Sohnes stößt und weinend den Raum verlässt. Tom räumt derweil das Chaos auf dem Dachboden auf, um Platz für sein „Observatorium“ zu schaffen. Als Opa Horst Hanna sucht, berichtet Tom nüchtern: Sie hat geweint. Und zeigt Horst die Kiste, in der Kindergeburtstags-Kronen seines verstorbenen Vaters liegen. „Die sind ja auch ganz zerknittert“, schlussfolgert er und meint, den Grund für Hannas Tränen gefunden zu haben. Das Publikum lacht, wie so oft in diesem Film. Am Schluss findet Tom durch mathematische Berechnungen den angeblich verschwundenen Asteroiden. Und er schafft es doch, durch die rote Tür zu gehen, in dem er sich eine Sonnenbrille aufsetzt, so dass die Tür lila erscheint. 

Unsichtbare Barrieren

Mehr solche „Tricks“ wünscht sich Anne-Rose Kramatschek-Pfahler, damit Autisten in einer Welt der Reizüberflutung besser zurechtkommen können. Die rote Tür stünde dabei als Symbol für die unsichtbaren Barrieren, auf die Menschen mit Wahrnehmungsbesonderheiten stoßen. „Unter Barrieren haben die meisten Menschen bauliche oder räumliche Barrieren im Kopf wie die Treppe, die einen Rollstuhlfahrer behindert. Es fehlt das Verständnis für autistische Wahrnehmungsbesonderheiten.“

In der anschließenden Diskussion erntet der Film einhelliges Lob. Eine Mutter eines autistischen Sohnes merkt kritisch an, dass der Film Klischees bediene, etwa dass Autisten überdurchschnittlich intelligent und auf Spezialinteressen fokussiert seien. Umso wichtiger sei es, über die Vielfältigkeit dieser neurologischen Entwicklungsbeeinträchtigung aufzuklären und falsche Vorstellungen – etwa dass autistische Kinder nicht sprechen – zu widerlegen, so Anne-Rose Kramatschek-Pfahler. Etwa ein Prozent der Menschen leben mit einer „Autismus-Spektrum-Störung“, im Saarland gibt es also etwa 10.000 Betroffene. 

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